Gesetzliche Mindestlöhne haben Hochkonjunktur. Vier Kantone haben bereits einen eingeführt, in weiteren wurden entsprechende Initiativen lanciert. Und das, obwohl das Stimmvolk einem nationalen Mindestlohn am 18. Mai 2014 mit 76 Prozent eine deutliche Abfuhr erteilte. Was ist geschehen? Woher kommen die neuen Sympathien für einen gesetzlichen Mindestlohn? Und welche Probleme sollen damit gelöst werden?
Die Stimmung in der Bevölkerung scheint sich gegenüber 2014 verändert zu haben. In den Kantonen Jura, Neuenburg, Tessin und Genf hat eine Mehrheit einem kantonalen Mindestlohn zugestimmt. Offenbar erleben zunehmend mehr Menschen den Arbeitsmarkt als Herausforderung.
In der Tat sind Veränderungen im Gange. Die Globalisierung verschärft den Wettbewerb, die Digitalisierung verändert Geschäftsmodelle, Kommunikation und Zusammenarbeit, und die Zuwanderung vergrössert das Arbeitsangebot. In diesen Megatrends liegen viele Chancen für Wirtschaft und Gesellschaft: unter anderem in neuen Produkten und Dienstleistungen, einer rascheren Verfügbarkeit, günstigeren Preisen und einer grösseren Auswahl. Jede Veränderung erfordert auch Anpassungen. Das fällt nicht jedem gleich leicht.
Eine Umkehr zur Vergangenheit ist jedoch nicht möglich, ebenso wenig Zukunftstrends aufzuhalten. Um Wirtschaft und Gesellschaft im veränderten Umfeld optimal zu regeln, sind mittelfristig deshalb neue Rezepte gefragt. Gesetzliche Mindestlöhne sind dafür kaum das geeignete Mittel.
Generell gesehen geht es dem Arbeitsmarkt Schweiz sehr gut, obwohl die Corona-Pandemie ihre Spuren hinterlassen hat: Viele Menschen sind in Kurzarbeit und die Arbeitslosigkeit ist gestiegen. Dennoch zeichnet sich der Arbeitsmarkt durch eine sehr hohe Erwerbsquote aus. Das dürfte auch nach der Pandemie so bleiben.
Neue, flexible Arbeitsmodelle entstehen und nehmen zu, doch die Flexibilisierung schreitet nur langsam voran.1 Das ist aber kein Nachteil, denn es handelt sich nicht um einen Paradigmenwechsel, sondern vielmehr um eine schrittweise Veränderung. Das gibt der Politik die Möglichkeit, zu beobachten, zu experimentieren und über eine kluge und sanfte Anpassung des Regelwerks nachzudenken. Schnellschüsse, wie beispielsweise ein gesetzlicher Mindestlohn sind unnötig – und schädlich.
Ein gesetzlicher Mindestlohn verhindert weder die Flexibilisierung noch schützt er vor Jobverlust oder Armut. Vielmehr stellt er eine rigide Regelung dar, die den Spielraum der Unternehmen einschränkt. Folgen können die Auslagerung von Arbeitsplätzen oder deren gänzliche Streichung sein. Doch einen Arbeitsplatz kann man nicht erzwingen. Er muss sich betriebswirtschaftlich lohnen, damit ein Unternehmen ihn schafft.
Die Gefahr von Arbeitsplatzvernichtung besteht insbesondere bei einem gesetzlichen Mindestlohn. Häufig entspricht dieser einer Einheitslösung und ist daher viel zu wenig differenziert, um den unterschiedlichen Gegebenheiten von Branchen und Unternehmen Rechnung zu tragen. Für einzelne Betriebe oder Branchen birgt ein gesetzlicher Mindestlohn deshalb das Risiko, dass Jobs verloren gehen. Damit wäre das Gegenteil des Erhofften erreicht.
Auch gegen Armut kann ein gesetzlicher Mindestlohn wenig ausrichten. Das Einkommen eines Haushalts wird nämlich durch viele Faktoren beeinflusst, wovon die Lohnhöhe nur einer ist. So zeigt eine Working Poor-Analyse des Bundesamts für Statistik2, dass viele der von Armut betroffenen Haushalte gar keine Tieflöhne beziehen. Ein Mindestlohn würde ihre Lohn- beziehungsweise Einkommenssituation somit gar nicht verändern. Sie sind arm, weil sie beispielsweise als kinderreiche Familie hohe Ausgaben zu schultern haben und/oder nur eine Person im Haushalt einer Erwerbstätigkeit nachgeht. Handkehrum sind viele der Menschen, die einen tiefen Lohn beziehen, nicht arm, weil sie in einem Haushalt leben, in dem weitere Personen Geld verdienen.
Passendere und massgeschneiderte Regelungen entspringen der Sozialpartnerschaft auf Betriebs- oder Branchenebene. Der Interessensausgleich unter den Direktbetroffenen führt zu differenzierten und der Situation angepassten Regelungen, was eine Einheitslösung aus dem Gesetz nie bewerkstelligen kann. Entsprechend vielfältig ist die Gesamtarbeitsvertrags-Landschaft. So kennen manche GAV Mindestlöhne, andere dagegen nicht. Je nach Betrieb und Branche werden zudem weitere, spezifische Anliegen wie Arbeitszeiterfassung, Schichtzulagen, Pikettdienst, Weiterbildung, Altersvorsorge in den GAVs geregelt.
Viele beschwören die Sozialpartnerschaft als Erfolgsfaktor für den ausserordentlich guten Zustand des Schweizer Arbeitsmarktes. Gesetzliche Mindestlöhne greifen diesen aber an. Je mehr gesetzliche Vorgaben es gibt, desto weniger Spielraum und Anreiz besteht für die Sozialpartner, ausgewogene und massgeschneiderte Regelwerke zu entwickeln.
Will die Sozialpartnerschaft den Arbeitsmarkt auch künftig gestalten, muss sie sich aber ebenso modernisieren. Mit der Digitalisierung, Globalisierung und Flexibilisierung des Arbeitsmarktes stellen sich neue Herausforderungen, für die neue, kreative Rezepte vermutlich besser wirken als das alte GAV-Instrumentarium. Ebenso wird die Organisationsfähigkeit der Sozialpartnerschaft auf die Probe gestellt. Arbeitnehmende und Arbeitgebende müssen in entgrenzten, digitalen Räumen und in häufiger wechselnden Arbeitsbeziehungen neue Wege finden, um sich zu organisieren.
Ein zukunftsträchtiges Beispiel lebt die Temporärbranche vor: Zwar hat diese noch keine Wege gefunden, ihre flexiblen Mitarbeitenden zu einem hohen Grad zu organisieren. Im GAV Personalverleih wurden aber bereits verschiedene Lösungen wie Weiterbildungsleistungen, Altersvorsorge und Krankentaggelder entwickelt, die auch bei flexibler Arbeit gewährleistet werden können.
Der Schlüssel für die Gestaltung des Arbeitsmarkts von morgen liegt in partnerschaftlich entwickelten, kreativen Lösungen mit sozialer Innovation und nicht in rigiden gesetzlichen Vorgaben.
1 Vgl. Schweizerische Arbeitskräfteerhebung des Bundesamts für Statistik
2 Bundesamt für Statistik BFS (2008). «Tieflöhne und Working Poor in der Schweiz»